Ökonomen fordern mehr von Merz – Ohne Reformen bleiben nur Schulden

Berlin (Reuters) – Deutschlands führende Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen wegen der Schuldenpolitik der neuen Bundesregierung in den nächsten beiden Jahren mit einem spürbaren Aufschwung.

Allerdings sollte sich die schwarz-rote Koalition nicht darauf ausruhen, sagte Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft am Donnerstag in Berlin. Ohne handfeste Reformen drohten die Milliarden zu verpuffen. Ein selbsttragender Aufschwung mit vielen privaten Investitionen sei nicht in Sicht. Es werde eher einem Junkie eine Spritze verabreicht, womit sich dieser nach dem Schuss zunächst besser fühle. “Aber es würde wohl niemand auf die Idee kommen, schon gar kein Arzt, zu sagen, jetzt hat sich der Patient erholt.”

Nach zwei Rezessionsjahren 2023 und 2024 rechnen die Forscher vom DIW, IfW, Ifo, RWI und IWH dieses Jahr nur mit einem Mini-Wachstum von 0,2 Prozent. 2026 und 2027 dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dann aber um 1,3 und 1,4 Prozent zulegen. Das geht aus dem Herbstgutachten der Institute für die Regierung hervor. Die Forscher bestätigten damit die Prognosen, über die die Nachrichtenagentur Reuters bereits am Dienstag berichtet hatte.

Die massiven Staatsausgaben dürften das BIP 2026 und 2027 um 0,8 und dann 0,4 Prozentpunkte anheben. Union und SPD schaffen derzeit einen 500 Milliarden Euro schweren Sondertopf, um die Infrastruktur zu sanieren. Außerdem sind die meisten Ausgaben für die Aufrüstung der Bundeswehr mittlerweile von der Schuldenbremse ausgenommen – eine Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine.

“Die Talsohle dürfte jetzt erreicht sein”, so DIW-Konjunkturexpertin Geraldine Dany-Knedlik. Das kaschiere aber nur die strukturellen Probleme des Standorts – hohe Energie- und Arbeitskosten, viel Bürokratie und zu wenig Fachkräfte. Ohne Reformen werde die Wettbewerbsfähigkeit weiter abnehmen. “Die deutsche Wirtschaft steht nach wie vor auf wackeligen Beinen.” Als Risiken nannte sie den Handelsstreit und eine fehlende Konsolidierung der Haushalte.

KONKRETE EMPFEHLUNGEN FÜR “HERBST DER REFORMEN”

Die Forscher empfahlen der Regierung ein Dutzend Maßnahmen für den angekündigten “Herbst der Reformen”. Bei einer Umsetzung wären sowohl kurz- als auch langfristige Wachstumsimpulse zu erwarten. Unter anderem sollte in der Verwaltung Personal reduziert werden. Mehr Produktivität müsse durch Digitalisierung erreicht werden. Effizienzsteigerungen im Gesundheitssystem seien auch unerlässlich. Bestandsrenten sollten langsamer steigen als die Nominallöhne. “Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre, den Nachhaltigkeitsfaktor wieder aufleben zu lassen.” Anreize für einen frühen Renteneintritt müssten gestrichen werden. Auf dem Arbeitsmarkt brauche es eine vereinfachte und erweiterte Anerkennung ausländischer Abschlüsse, um Fachkräfte anzulocken.

In der Umweltpolitik betonten die Forscher, dass sich globale Probleme nur durch weltweite Kooperationen lösen ließen. Ein deutscher Alleingang führe nur zur Abwanderung von Industriezweigen ins Ausland. Eine Subventionierung wie beim geplanten Industriestrompreis wird abgelehnt. Kooths erteilte auch der Idee von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) eine Absage, bei bestimmten Halbleitern, Batterien und Stahl Vorgaben zum Einkauf in Europa zu machen. Ein sogenannter “Buy European”-Ansatz bringe nichts. China habe mit seiner staatlich finanzierten Industriepolitik für eine Immobilienkrise gesorgt und müsse nun Überproduktion auf dem Weltmarkt verramschen.

In der deutschen Finanzpolitik sollte den Forschern zufolge bei der geplanten Grundsatz-Reform der Schuldenbremse darauf geachtet werden, dass dauerhafte Verteidigungsausgaben mittelfristig wieder in den Kernhaushalt überführt und durch Steuereinnahmen finanziert werden. Ausgabenkürzungen im Haushalt seien sinnvoller als Abgabenerhöhungen. Die öffentliche Infrastruktur sollte stärker durch die Nutzer finanziert werden. Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung aus Halle kritisierte, dass der Staatsverbrauch stärker steige als die geplanten Investitionen. “Es passiert genau das, was wir immer gesagt haben.” Die Schuldenbremse müsste eigentlich wieder strenger werden.

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sprach zwar von richtigen Ansätzen der Regierung, forderte aber mehr. “Ein Einstieg in eine Unternehmenssteuerreform erst ab 2028, eine Strompreisentlastung nur für einzelne Branchen sowie marginale Änderungen beim Lieferkettengesetz reichen bei Weitem nicht aus. Die Wirtschaft braucht ein Entlastungspaket, das diesen Namen auch verdient.” Nächste Woche trifft sich das Kabinett von Kanzler Friedrich Merz (CDU) zur Klausur in der Villa Borsig in Berlin. Dort soll es vor allem um Bürokratieabbau und die geplante Staatsmodernisierung gehen.

(Bericht von Christian Krämer, Maria Martinez, Klaus Lauer und Reinhard Becker, redigiert von Christian Rüttger. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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