– von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) – Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat gerade erst ein Grillfest mit den SPD-Kollegen hinter sich, das die Stimmung in der schwarz-roten Koalition nach der parlamentarischen Sommerpause eigentlich verbessern sollte.
Aber am Montagabend brach sich in der Fraktionssitzung nach Angaben mehrerer Teilnehmer gegenüber Reuters der geballte Frust Bahn. Der Adressat war dabei nicht nur der Koalitionspartner SPD, sondern auch Kanzler und CDU-Chef Friedrich Merz. “In der Fraktion gibt es verschiedene Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen sauer sind”, fasst ein Abgeordneter die Stimmung zusammen. Zwei Teilnehmer bezeichneten die Sitzung als “denkwürdig”.
Auslöser ist der Streit über Verkehrsausgaben. Aber die Gründe, warum die Union nun so heftig intern diskutiert, liegen nach Angaben von mehr als einem halben Dutzend Unions-Politikern, die anonym bleiben wollen, tiefer. Es liege nicht nur an der Grundnervosität wegen anhaltend schlechter Umfragewerte für Union und Merz.
HADERN MIT DER SCHULDENPOLITIK
Der Streit um die Richterwahl für Karlsruhe wie vor dem Sommer scheint zwar nun beendet. Aber ein erheblicher Teil der Unions-Abgeordneten hadert etwa immer noch damit, dass Merz der Kreditaufnahme von 500 Milliarden Euro zugestimmt hat. “Es ist für viele ein Beispiel, dass Merz vor der Wahl Dinge versprochen hat, die er nach der Wahl nicht gehalten hat”, sagt ein führender Fraktionsvertreter. Der wirtschaftskonservative Teil der Fraktion grummelt, dass Merz der SPD zu viele Zugeständnisse mache. Tatsächlich hat die Union bei der Bundestagswahl aber nur 28,5 Prozent erreicht und braucht daher einen Koalitionspartner – und damit Kompromisse.
Doch die Stimmungslagen von Regierungschef und Fraktionsmitgliedern driften derzeit auseinander. Merz hat nach dem Blitzstart der Regierung nun erst einmal besseres Kennenlernen und Harmonie verordnet, um die Vertrauensbasis für kommende schwierige Entscheidungen zu stärken. Bereits in seiner Haushaltsrede vergangenen Mittwoch mahnte er zudem Geduld an. Die Regierung habe zwar im Eiltempo etliche Gesetze beschlossen, aber einige Entlastungen treten erst zum 1. Januar 2026 in Kraft. Strukturreformen könne man nicht über das Knie brechen.
Aber in der Fraktion ist die Ungeduld groß, viele Abgeordnete stehen in ihren Wahlkreisen unter Druck. “Wir haben jetzt zwar hohe Schulden aufgenommen. Aber von den harten Einschnitten im Sozialbereich haben wir noch nicht viel gesehen”, moniert ein Wirtschaftspolitiker. “Früher hat man harte Einschnitte zu Beginn von Legislaturperioden beschlossen. Jetzt droht angesichts der gerade erst eingesetzten Kommissionen, dass bei Rente, Gesundheit oder Pflege bis 2029 möglicherweise gar keine grundsätzlichen Entscheidungen mehr fallen”, warnt ein anderer Unions-Abgeordneter.
WEGEN ISRAEL LIEGEN DIE NERVEN BLANK
Für Unruhe sorgt auch der Umgang mit Israel. Spannungen gibt es spätestens seit der Merz-Entscheidung über einen teilweisen Stopp von Rüstungsexportgenehmigungen wegen des Gazakrieges vor allem mit der CSU, die sich als letzte Bastion der Israel-Freunde geriert.
Allerdings ist die Spannbreite der Meinungen innerhalb der Unions-Fraktion angesichts des ungebremsten Vorgehens Israels im Gazastreifen und der Gewalt jüdischer Siedler auch gegen Christen im Westjordanland mittlerweile groß: Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Steffen Bilger, wies am Dienstag darauf hin, dass Israels Vorgehen in Gaza und im Westjordanland zu “Veränderungen in der Politik gegenüber Israel führen können, wo es an der einen oder anderen Stelle geboten ist”. Die Union gerate mit ihrer Solidarität mit Israel immer mehr unter Druck, je mehr sich der Konflikt verschärfe, warnt ein Mitglied der Fraktionsführung.
DRUCK AUS DEN LÄNDERN – UND KRITIK AM FÜHRUNGSSTIL
Dazu kommt, dass in der Debatte um die Verkehrsinfrastruktur massiver Druck aus den Ländern auf die Unions-Führung in Berlin ausgeübt wird. In Bayern und Nordrhein-Westfalen regieren mit Söder und Hendrik Wüst zwei Ministerpräsidenten, die sich ohnehin für die besseren potenziellen Kanzler halten. Die 500 Milliarden Euro für Infrastruktur wecken Begehrlichkeiten in allen Ecken der Republik: Landes- oder Kommunalpolitiker stellen jetzt erschrocken fest, dass sie ihren Wählern einen zu großen Geldsegen aus Berlin versprochen haben. Verkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) heizte den Frust ungewollt noch an, weil er auf Forderung des Haushaltsausschusses Listen verschickte, welche Verkehrsprojekte nicht finanziert werden können.
Dazu kommen Stilfragen, die zuletzt an den Nerven zehrten. Sowohl die Fraktion als auch die CSU klagen, dass sie vom Kanzler, Kanzleramtschef Thorsten Frei und Vizekanzler Klingbeil nicht genug eingebunden werden. Söder hat nun durchgesetzt, dass ein Staatssekretär aus dem Innenministerium in die sogenannte Frühkoordinierung der Regierung eingebunden wird. Und die Unions-Fraktion gab einen kleinen Warnschuss ab, indem sie die zwischen Kanzler, Außenminister Johann Wadephul und Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan abgesprochene Finanzhilfe für palästinensische Schulen im Westjordanland vorübergehend infrage stellte.
(Redigiert von Scot W. Stevenson; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)