Siemens Energy steht bei Windkrafttochter Gamesa vor Scherbenhaufen

– von Christina Amann

Frankfurt (Reuters) – Für den Energiekonzern Siemens Energy entwickelt sich die Windturbinen-Tochter Siemens Gamesa zum Fass ohne Boden.

Die Probleme bei den bereits installierten Windkraftanlagen an Land sind größer als erwartet, zudem gelingt der Ausbau der Fertigung von neuen Offshore-Anlagen nicht wie erhofft. “Der Rückschlag ist heftiger, als ich es für möglich gehalten hätte”, sagte Siemens-Energy-Chef Christian Bruch am Freitag in einem Analysten-Call. Das Unternehmen strich seine Prognose und rechnet mit zusätzlichen Kosten in Milliardenhöhe. Dabei hatte der Münchner Konzern für 2022/23 (Ende September) schon bisher mit einem auf mehr als 800 Millionen Euro steigenden Nettoverlust gerechnet.

An der Börse brach die Aktie um mehr als ein Drittel ein, der Börsenwert sank um 6,3 Milliarden Euro. Es war der größte Kursrutsch seit der Abspaltung von Siemens Energy aus dem Siemens-Konzern 2020. Bei Investoren machte sich Enttäuschung breit. “Es ist ein rabenschwarzer Tag für Siemens Energy und ein schwerer Tag für seine Investoren”, sagte Union-Investment-Fondsmanager Felix Schröder. “Es ist Teil der Schocknachricht, dass das Management selbst eingeräumt hat, dass sie nicht genau umreißen können, was das alles kosten wird.” Für Siemens Energy werde es nun schwierig, “weil Managementkapazitäten darauf verwendet werden müssen, das Bestandsgeschäft in Ordnung zu bringen, statt sich auf neue Märkte zu konzentrieren.”

Ingo Speich, bei der Fondsgesellschaft Deka Investment zuständig für Nachhaltigkeit und Corporate Governance, sprach von einem “herben Rückschlag”, der die sehr gute Arbeit des Managementteams auf einen Schlag zunichte mache. “Jetzt bedarf es erheblich größerer Anstrengungen, das verloren gegangene Vertrauen am Kapitalmarkt zurück zu gewinnen.” Wenn man die Geschichte der Branche ansehe, sei die Warnung keine vollständige Überraschung, schrieben die Experten von JP Morgan, “aber was uns überrascht hat, ist die Größenordnung”. Der Kursrutsch dürfte auch bei Siemens für Kopfzerbrechen sorgen: Das Unternehmen will den restlichen Anteil von 31,9 Prozent an der ehemaligen Tochter verkaufen. Finanzvorstand Ralf Thomas hatte zuletzt angedeutet, dass über das weitere Vorgehen bis September entschieden werden solle.

MATERIAL- UND DESIGNFEHLER FÜR PROBLEME VERANTWORTLICH

Erst im Januar hatte Gamesa eine knappe halbe Milliarde Euro für Garantie- und Wartungskosten zurückgestellt, weil bestimmte Bauteile an den Windrädern häufig ausfielen. Doch das reicht bei weitem nicht aus. “Die Qualitätsprobleme gehen deutlich über das hinaus, was bisher bekannt war”, sagte Siemens-Gamesa-Chef Jochen Eickholt. Bei einer umfangreichen Analyse habe sich gezeigt, dass Komponenten wie Lager oder Rotorblätter fehlerhaft seien. “Wir haben noch kein abschließendes Resultat, aber das Ergebnis der Untersuchung ist schlechter, als ich es für möglich gehalten habe.” Teils seien Designprobleme aufgetaucht.

Dazu komme die Unternehmenskultur bei Siemens Gamesa, sagte Bruch. Die nun gefundenen Fehler beträfen vor allem die Bestandsflotte, hier zeige sich ein Mangel an Transparenz. Es sei zu viel unter den Teppich gekehrt worden. Die Auswirkungen der technischen Probleme bei bestimmten Komponenten seien noch nicht ganz abzuschätzen, da der Lebenszyklus solcher Teile rund 20 Jahre dauere, ergänzte Siemens-Gamesa-Chef Eickholt. Auch die Kosten könne man noch nicht genau beziffern, sagte Bruch. Weitere Informationen kündigte das Unternehmen für den 7. August an, wenn die Quartalszahlen vorgelegt werden.

ZUSÄTZLICHE SCHWIERIGKEITEN IN DER PRODUKTION

Doch nicht nur die bereits ausgelieferten Anlagen bereiten Bruch und Eickholt Kopfzerbrechen – auch der Hochlauf der Produktion von neuen Offshore-Windkraftanlagen läuft nicht so wie eigentlich geplant. Eickholt berichtete von Verzögerungen beim Bau neuer Hallen, zu spät gelieferten Werkzeugen oder Schwierigkeiten, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden. Dazu kämen steigende Materialkosten und eine geringere Produktivität als erwartet, welche das Geschäft mit Windkraftanlagen an Land beeinträchtigten. Keines dieser Themen sei für sich betrachtet herausragend, “aber die Summe ist etwas, das uns Sorgen bereitet”, sagte Eickholt.

Dennoch sei die vollständige Übernahme von Gamesa kein Fehler gewesen, sagte Bruch. “Windenergie wird für die Energiewende gebraucht, Windenergie muss profitabel werden.” Zugleich räumte er eine Fehleinschätzung ein, die das gesamte Geschäft von Siemens Energy betrifft, das neben den Windkraftanlagen auch Gasturbinen oder Kraftwerkstechnik umfasst. “Ich dachte, Siemens Gamesa wäre das kleinere Problem – dass das nicht der Fall ist, haben wir über die vergangenen Jahre gelernt.”

Bruch hatte Eickholt vor gut einem Jahr nach Spanien geschickt, damit dieser den weltweit führenden Hersteller von Offshore-Windturbinen wieder auf Kurs bringt. Eickholt gilt als äußerst erfahrener Sanierer, der vor Gamesa bereits andere Bereiche des Siemens-Konzerns auf Vordermann gebracht hatte.

Doch Gamesa gilt als besonders hartnäckiger Fall. Seit Jahren macht der Windkraftanlagenbauer immer wieder mit Verlusten und Qualitätsmängeln auf sich aufmerksam. Wiederholt musste Siemens Energy deswegen seine Prognose kappen. Erst vor wenigen Wochen hatte Siemens Energy das spanische Unternehmen vollständig übernommen, um besser durchgreifen zu können. Union-Investment-Experte Schröder sagte, er sei eigentlich davon ausgegangenen, dass im Zusammenhang mit der Übernahme Siemens Gamesa gründlich unter die Lupe genommen worden sei. “Wenn ich ahne, es gibt mehr Leichen im Keller als zunächst gedacht, muss ich mit der Übernahme warten”, sagte er. Man müsse die Frage stellen, warum Siemens Energy nicht gewartet habe. “Das ist enttäuschend und kostet jetzt hart aufgebaute Glaubwürdigkeit.”

(Unter Mitarbeit von Chris Steitz, Alexander Hübner und Sabine Wollrab, redigiert von Olaf Brenner. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter Berlin.Newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder Frankfurt.Newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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